Infomail Wissenschaft Nr. 8 (November 2021)

Infomail Wissenschaft

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

INHALT

Zwischen Schönmalerei und harten Fakten: Über Diskrepanzen der medialen Vermarktung von Nachhaltigkeitsthemen
Ein Gespräch mit den Journalist*innen ROSWITHA M. REISINGER, CHRISTIAN BRANDSTÄTTER und DANIEL NUTZ
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Über die Magie des Alltags, die Flugscham und Urlaubs-Bettenburgen
von NINA SAHDEVA & CAROLINE KIRNBAUER
Lesen Sie auf der Website von fairunterwegs weiter --->

Veranstaltungen im Fokus der Nachhaltigkeitskommunikation
von SARAH SOMMERAUER, sommerauer sustainable events
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Brücken bauen zwischen den Kulturen – Wie Reisedolmetscher*innen zu nachhaltigen Begegnungen beitragen
Interview mit INGEBORG PINT
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Respektvoll Reisen revisited: Wo steht die praktische Tourismusethik 20 Jahre später?
von HARALD A. FRIEDL
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Tragende Elemente der Brücke zwischen Absicht und Handlung
von NINA SAHDEVA
Lesen Sie auf der Seite von fairunterwegs weiter --->

Mission Nachhaltigkeit: auf den Spuren der Jesuiten oder maximaler Lebensgenuss bei minimalem Schaden?
Ein Diskurs zwischen HARALD A. FRIEDL & CORNELIA KÜHHAS
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Zwischen Schönmalerei und harten Fakten

Über Diskrepanzen der medialen Vermarktung von Nachhaltigkeitsthemen

Welches Potenzial hat die mediale Kommunikation, um die Grüne Transformation voranzutreiben? Wie „verkauft“ man Nachhaltigkeit? Wie politisch muss und darf man als Journalist*in zu Nachhaltigkeitsthemen sein? Wie gelingt es, dass seriöse Information nicht in der Flut an „Fake News“ untergeht? Das haben wir die Journalist*innen ROSWITHA M. REISINGER & CHRISTIAN BRANDSTÄTTER (Geschäftsführende Gesellschafter*innen Lebensart Verlag) und DANIEL NUTZ (Chefredakteur Österreichische Gastronomie- und Hotelzeitung ÖGZ) gefragt.

foto Cornelia Kühhas
Foto: Cornelia Kühhas

Nachhaltigkeit ist, ernst genommen, komplex und spröde. Wie kann man sinnvoll und gewinnend über Nachhaltigkeit kommunizieren, ohne entweder geschönte Grünmalerei oder unverständliches, weil abstraktes Kauderwelsch zu produzieren?

Daniel Nutz: Die Transformation in ein nachhaltiges Wirtschaftssystem ist faktisch die größte Herausforderung unserer Zeit. Darüber herrscht in der Wissenschaft und auch in weiten Teilen der Politik Einigkeit. In diesem Kontext halte ich es, gerade in der B2B-Kommunikation wichtig, die Verbindung von Innovation und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen. Unternehmen mit einem nachhaltigen Geschäftskonzept sind in den meisten Fällen auch die innovativeren Unternehmen und jedenfalls jene, die besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet sind. Denn mittelfristig werden sich die Rahmenbedingungen dahingehend ändern (müssen), dass nicht-nachhaltiges Wirtschaften sanktioniert wird.  

Christian Brandstätter: Konkret auf den nachhaltigen Tourismus bezogen gelingt dies, indem man die nachhaltigen Angebote in der Region beschreibt. Wie komme ich öffentlich an mein Reiseziel? Wie sieht das Mobilitätsangebot vor Ort aus (Bus, E-Bikes, ...)? Welche Hotels wirtschaften besonders ökologisch (Umweltzeichen, …)? Welche Restaurants bieten Bio-Essen und regionale Küche? Welche umweltfreundlichen Freizeitangebote gibt es? Wo kann ich gegebenenfalls meinen Flug kompensieren? Mit der Zeit bekommen die Leser*innen ein Gefühl, worauf es beim Thema Nachhaltigkeit ankommt, ohne dass man das Wort dauernd strapaziert oder in der Theorie bleibt.

Foto Elena Teutsch
Nachhaltige Angebote müssen gut kommuniziert werden (Foto: Elena Teutsch)
Wie können die unterschiedlichen Stakeholder – Reisende, Tourismuswirtschaft, Politiker*innen – angesprochen bzw. erreicht werden?

Christian Brandstätter: Die Menschen wollen mehr Klimaschutz. Sie wissen oft nur nicht, wie sie – vor allem im Urlaub – zum Klimaschutz beitragen können. Destinationen sollten daher ihre nachhaltigen Angebote und den damit verbundenen Beitrag zum Klimaschutz sehr gut kommunizieren.
Politiker*innen und Tourismuswirtschaft müssen sich ihrer Verantwortung für die CO2- Reduktionsziele bewusst werden. Minus 55 Prozent bis 2030! Sie werden das gesamte Angebot dahingehend überprüfen und weiterentwickeln müssen, wenn sie nicht abgehängt werden wollen. Die Klimaziele geben die Route vor.

Daniel Nutz: Die Politik muss an die vertraglich vereinbarten Ziele des Pariser Abkommens erinnert werden. Steuerrechtliche Interventionen und sämtliche Förderungen müssen im Einklang diese Ziele erfolgen. Medien haben in der Kommentierung solcher Maßnahmen eine Kontrollfunktion. Die Unternehmer*innen und Konsument*innen können vermutlich am besten sensibilisiert werden, indem in der Berichterstattung möglichst oft ein Konnex zur Nachhaltigkeit hergestellt wird.   

Gehört ist nicht verstanden, ist nicht getan ... Viele Medien sind engagiert in der Thematisierung der Notwendigkeit von nachhaltigen Produkten und Lebensstilen, während sich bislang wenig zu verändern scheint. Welchen Beitrag zur Grünen Transition kann mediale Kommunikation über Nachhaltigkeit überhaupt leisten?

Daniel Nutz: Medieninhalte spiegeln meistens die Einstellungen der Bevölkerung wider. Darum sollte man die Wirkung der Medienkommunikation nicht überschätzen. Was Medien können, ist „Agenda Setting“. Wir zeigen: Das gibt es. Ob nachhaltige Produkte oder Dienstleistungen dann tatsächlich konsumiert werden, hängt von vielen sozioökonomischen Faktoren ab.

Roswitha M. Reisinger: In den letzten Jahren hat sich extrem viel verändert: Nachhaltigkeit und Klimawandel sind unter den Top-10-Megatrends unserer Zeit. Dazu haben die vielen Naturkatastrophen beigetragen, von denen mittlerweile sogar in Österreich bereits jede*r einmal betroffen war – aber auch die weltweite mediale Berichterstattung, die zum Beispiel die Plastikverschmutzung an Traumstränden, in Flüssen oder im Meer sichtbar gemacht hat. Die sogenannten sozialen Netzwerke haben – vor allem über aussagekräftige Bilder – viele Menschen emotionalisiert und damit die Bereitschaft erhöht, aktiv zu werden. Das ist gut.
Aber wenn es bei der Emotion mit ihrer Schwarz-Weiß-Denke bleibt, kann kein Diskurs geführt oder eine gute Lösung gefunden werden. Die ausschließliche Emotionalisierung führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wie wir das gerade bei der Impfdebatte erleben.
Für einen demokratischen Diskurs sind lösungsorientierte Qualitätsmedien, wie LEBENSART und BUSINESSART, eine wesentliche Basis. Denn sie bringen nicht nur ein paar Fotos, sondern stellen die Entwicklung in einen größeren Kontext, checken Fakten, greifen Argumente auf, laden zum Diskurs ein und stellen Lösungsansätze vor. Das ist mühsam und aufwändig. Aber es ist extrem wichtig und lohnt sich. Denn nur auf dieser Basis kann ein demokratischer Diskurs darüber geführt werden, wie wir leben wollen.

Foto Kim Ressar
Die Agenda 2030 gibt das Ziel vor (Foto: Kim Ressar)
So mancher Politiker verspricht die Klimawende ohne Komfortverzicht. Wissenschaftlich betrachtet zwar problematisch, kommunikationspsychologisch hingegen nachvollziehbar, denn in einer Konsumkultur müssen erfolgreiche Produkte „Lust“ versprechen. Wie „verkauft“ man Nachhaltigkeit als „Lustgewinn“?

Daniel Nutz: Lügen ist nie ein guter Weg, um Veränderungen voranzutreiben. Nachhaltigkeit bedeutet in der konsumgesellschaftlichen Logik bestimmt erst einmal „Lustverlust“. Meine Hoffnung liegt darum eher darin, dass sich unsere Konsumkultur wandelt. Verzicht (auf Fleisch, auf Wochenend-Städtetrips, Fernreisen …) wird durchaus zum Leitsatz eines progressiven Lebensstils. Der wird derzeit zwar nur in gewissen „grüne Eliten“-Milieus gelebt, aber die Entwicklung ist gut erkennbar. Wie bekommt man die Masse? Vielleicht mit der Message: Sei kein*e  Konsumidiot*in!    

Christian Brandstätter: Fakt ist: Wer über’s Reisen schreibt, macht immer Lust auf‘s Fortfahren – was per se nicht zur CO2-Reduktion beiträgt. Die Bilder der nachhaltigen Kommunikation stehen dabei einer beinahe übermächtigen Konkurrenz aus Airlines, Reiseveranstaltern und Kreuzfahrtschiffen gegenüber, die Glück durch Konsum versprechen. Glück durch Konsum ist das Mantra der Konsumgesellschaft. Aber immer mehr Menschen entdecken, dass sich Glück nicht kaufen lässt, sondern nach dem Kauf wieder rasch eine Leere entsteht, die nach noch mehr Bedürfnisbefriedigung schreit.
Diese Menschen kann man abholen, indem man erzählt, wie sich nachhaltiges Reisen anfühlt: eine entspannte Anreise mit dem Zug – mit einem guten Essen im Speisewagen, vielleicht auch in Kombination mit etwas Abenteuer beim Umsteigen – ist doch ein schönes Erlebnis. Jede*r kennt den Stress, voll konzentriert in eine Blechdose geschnallt zu sein und bei brütender Hitze stundenlang im Stau zu stehen. Wie bequem es ist, wenn ich mir am Urlaubsort jederzeit ein E-Bike oder E-Auto ausleihen kann, wenn ich wirklich einmal eines brauche! Entscheidend ist, die Menschen dazu zu bringen, ihre eingeübten Gewohnheiten zu überdenken, und Lust auf neue Experimente zu machen.

Foto: Elena Teutsch
Wissenschaftliche Fakten und der Diskurs mit den Menschen sind die Basis des Qualitätsjournalismus (Foto: Elena Teutsch)
Als Journalist*in sollte man informieren, anstatt missionieren. Andererseits ist ein Wesenszug der Nachhaltigen Entwicklung der Wandel. Wie politisch muss und darf man als Journalist*in zu Nachhaltigkeitsthemen sein, um professionell und erfolgreich zu sein?

Roswitha M. Reisinger: Missionieren bedeutet, andere von etwas zu überzeugen, woran ich glaube. Journalismus, so wie wir ihn leben, bedeutet immer informieren und definitiv nicht missionieren. Denn wir schreiben nicht darüber, was wir glauben oder nicht glauben, sondern arbeiten auf Basis von wissenschaftlichen Fakten und im Diskurs mit vielen Menschen. Das bedeutet nicht, dass wir keine klare Ausrichtung haben! Wir stehen für ein gutes Leben für alle. Unsere Werte sind: Lebensfreude, Gerechtigkeit und Fairness, Wertschätzung, Schutz der Natur und verantwortlicher Umgang mit Ressourcen, Kooperation und Diskurs zur Stärkung aller Beteiligten. Das ist der Fokus, mit dem wir auf die Welt schauen, mit dem wir Themen aufgreifen und darüber berichten.

Daniel Nutz: Nachhaltige Entwicklung ist nicht verhandelbar. Ihre Notwendigkeit ist wissenschaftlich geklärt. Insofern sehe ich Journalist*innen moralisch verpflichtet, eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen. Wer Nachhaltigkeit als ein politisches Projekt denunziert, agiert abseits des wissenschaftlichen Status quo und will vermutlich die Öffentlichkeit mit Unwahrheiten manipulieren.  

Stichwort Greenwashing, Verschwörungstheorien, Fake News, die sich rasch verbreiten … Es scheint ein Ungleichgewicht zwischen Desinformation und seriöser Information – gerade in den sozialen Medien – zu geben. Wie reagieren Sie darauf und was können Sie als Journalist*in hier „dagegenhalten“?

Daniel Nutz: Der Medienwandel erleichtert solche Methoden natürlich. Vermutlich wurde noch nie so breit Unwahrheit gestreut, wie in unserer Zeit. Wie reagiert man darauf? Wohl mit einer klassischen journalistischen Arbeitsethik. Professionell arbeiten. Check, Re-Check, Double-Check, hätte es Hugo Portisch genannt. Ich kann mir gut vorstellen, dass aus der derzeit laufenden Transformation am Medienmarkt letztlich professionelle Qualitätsmedien gestärkt herausgehen.    

Roswitha M. Reisinger: Greenwashing ist das kleinere Problem. Denn durch die zunehmende Berichtspflicht und die breiteren Diskursmöglichkeiten wird das über kurz oder lang auffallen und dem Unternehmen einen Imageschaden bringen. Es lohnt sich à la longue einfach nicht.
Fake News und Desinformation – das ist eine große Herausforderung. Stichwort Donald Trump: Es ist heute offenbar auch für Top-Politiker*innen möglich, ungeniert zu lügen. Viele Menschen glauben diese Lügen – auch wenn die Fakten klar dagegensprechen – und andere tun sie ab als „ist ja nur dahergesagt“. Das hat aber weitreichende Folgen, denn es untergräbt das Vertrauen in Politik und Institutionen und damit à la longue die Demokratie.
Durch die Digitalisierung wird die Möglichkeit, Dinge zu fälschen, noch stark zunehmen – z.B. mit Videos, in denen Menschen Worte in den Mund gelegt werden, die sie nie gesagt haben. Solche Fälschungen sind sehr schwer zu entlarven. Problematisch ist zudem, dass über die sozialen Netzwerke solche Videos extrem rasch weltweit verbreitet werden können.
Durch diese Entwicklungen kommt Qualitätsmedien eine enorme Bedeutung zu. Sie werden – wenn sie gute Arbeit machen – die wesentliche Quelle sein, der man vertrauen kann. Die Recherche wird für Journalist*innen noch aufwändiger werden – das braucht Zeit und Geld. Ich hoffe, dass sich das in einer geeigneten Presseförderung niederschlagen wird. Denn rein privatwirtschaftlich wird sich Qualitätsjournalismus nicht finanzieren lassen.

Journalisten
Roswitha M. Reisinger, Christian Brandstätter (Foto: Karl Lahmer) & Daniel Nutz (Foto: Alex Grübling)

ROSWITHA M. REISINGER, Geschäftsführende Gesellschafterin Lebensart Verlag, Herausgeberin und Chefredakteurin BUSINESSART, www.businessart.at

CHRISTIAN BRANDSTÄTTER, Geschäftsführender Gesellschafter Lebensart Verlag, Herausgeber LEBENSART und LEBENSART-Reisen, www.lebensart.at | www.lebensart-reisen.at

DANIEL NUTZ, Chefredakteur Österreichische Gastronomie- und Hotelzeitung ÖGZ; www.gast.at

 


 

Veranstaltungen im Fokus der Nachhaltigkeitskommunikation

von SARAH SOMMERAUER

“We have seen how quickly the event industry was shot down if it’s seen as a threat to health, safety or to national security. When the government is faced with a carbon budget, restrictions on water and fuel use, etc. they won’t think twice about shutting the event industry down again. I was on a panel with a Member of the European Parliament in January 2021 and he said: If you don’t have a sustainable event in the next 10 years, you won’t have one.”
Claire O’Neill, Co-Founder & Director of A Greener Festival on a panel at The Event Production Show 2021

Zero Waste Berlin Festival
Foto: Zero Waste Berlin Festival

Veranstaltungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Personen zu einem bestimmten Zweck zusammenkommen. Sie sind Möglichkeiten, um Wissen zu vermitteln, Spitzenleistungen hervorzuheben, Kulturen zu feiern, Gemeinschaften zu stärken, um zu zelebrieren, zu unterhalten, zu inspirieren und dabei Menschen auf emotionaler Ebene zu verbinden. Beim Zusammenkommen von Menschen werden jedoch naturgemäß Ressourcen verbraucht, Abfall entsteht, Energie wird benötigt und Personen, Umwelt und die Wirtschaft werden beeinflusst.

Da Millionen von Menschen weltweit jedes Jahr Veranstaltungen besuchen, können diese eine wichtige Rolle spielen, um zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Hier stehen insbesondere große Sportveranstaltungen mit ihrer globalen Aufmerksamkeit im Fokus.

Doch was ist eine nachhaltige Veranstaltung?
Eine nachhaltige Veranstaltung ist so konzipiert, organisiert und durchgeführt, dass sie die negativen Auswirkungen auf deren Stakeholder und die Umwelt minimiert und die positiven Auswirkungen auf die Wirtschaft, die gastgebende Bevölkerung, die Besucher*innen, die Mitarbeiter*innen und alle anderen Beteiligten maximiert. Sie umfasst daher alle Maßnahmen, die zur Erreichung sozialer, kultureller, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele ergriffen werden.
 
Veranstaltungen als Teil der Nachhaltigkeitskommunikation
Veranstaltungen können daher entweder die Wissensvermittlung im Bereich Nachhaltigkeit als Inhalt der Veranstaltung in den Vordergrund stellen oder ein anderes Veranstaltungsziel verfolgen, dabei jedoch die Veranstaltung selbst nachhaltig organisieren. Natürlich sollte eine Veranstaltung, deren Ziel die Vermittlung von ökologischem Wissen ist, diesen ökologischen Anspruch auch bei der eigenen Umsetzung beachten. Als herausragendes Beispiel gilt hier das Zero Waste Berlin Festival 2021.

a) Die Konferenz hatte Schwerpunkte wie Sustainable Fashion, Foodsystems, Smart Cities and Technologies. Es gab Workshops, Keynotes, Filme und Aussteller, die unterschiedliche Blickpunkte und Lösungsmöglichkeiten für eine nachhaltige Zukunft darlegten.
b) Bei der Umsetzung wurden alle Register gezogen. Es wurde eine Veranstaltungsstätte gewählt, welche ausschließlich durch erneuerbare Energien betrieben wird.

Zero Waste Berlin Festival
Genuss ohne Abfall (Foto: Zero Waste Berlin Festival)

Das Catering war rein vegetarisch; Getränke und Speisen wurden in Mehrwegbechern und -schüsseln serviert. Mehr als zwei Drittel der Gäste reisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln an, und jegliche benötigte Infrastruktur wurde gemietet. Die drei kleinen Abfallbehälter vor Ort mussten über das Wochenende kein einziges Mal geleert werden und waren auch nach Ende der Veranstaltung nicht einmal halb voll.

Was im Rahmen des neu entstandenen „Zero Waste Berlin Festival“ mit dessen 1000 Teilnehmer*innen so einfach und naheliegend erscheint, ist in der Praxis eine Riesenaufgabe. Je größer und internationaler die Veranstaltung ist, je mehr Teilnehmer*innen und Dienstleister involviert sind und je länger die Veranstaltung bereits besteht, desto höher wird das Maß an benötigter Expertise, um die Veranstaltung mit all seinen Subsystemen erfassen zu können: Denn die Veranstaltung muss bis aufs kleinste Detail heruntergebrochen, all die unzähligen ineinander übergehenden Bereiche und beteiligten Dienstleister analysiert, evaluiert und darauf aufbauend Veränderungsstrategien festgelegt werden. Dies zeigt bereits, dass die nachhaltige Transformation der Eventkultur nur ein langwieriger Prozess sein und nicht von heute auf morgen „geschehen“ könne.

Ein paar der wichtigsten Maßnahmen, welche auch im Rahmen einer Masterarbeit (Sommerauer, 2020) erörtert wurden, sind dabei folgende:

Generell
-    Als zentrale Stellhebel der Nachhaltigkeit muss diese in alle Prozesse der Planung und Organisation mitgedacht und aktiv eingebunden werden.
-    Stakeholder müssen zur Umsetzung nachhaltiger Maßnahmen inspiriert werden. Dazu muss sichergestellt werden, dass die betroffenen Stakeholder auch über die entscheidenden Ressourcen und Fähigkeiten verfügen.
-    Alle umgesetzten Maßnahmen sollen sowohl nach innen, wie auch nach außen, so gut wie möglich kommuniziert werden, um die Bewusstseinsbildung in Sachen Nachhaltigkeit zu fördern.

Die Veranstaltungsstätte
-    sollte sich in einer auf die Zielgruppe abgestimmten, zentralen Lage befinden, damit sie …
-    gut an öffentliche Verkehrsmittel sowie ein Fahrrad-Wegenetz angebunden ist.
-    Sie sollte nach den neuesten, energieeffizientesten und klimafreundlichsten technischen Standards ausgerüstet und durch erneuerbare Energie betrieben sein.
-    Geeignete Unterbringungsmöglichkeiten sollten (bei Bedarf) in der Nähe vorhanden sein.

Mobilität
-    Anreize für Besucher*innen zur Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad schaffen (zB: kostenlose/ermäßigte Fahrkarten anbieten)
-    Diese Anreiseoption per öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrrad muss vorrangig kommuniziert werden

Abfall
-    Ein Abfallwirtschaftskonzept mit Strategien zur Müllvermeidung und zur Mülltrennung muss erstellt werden.

Das Catering
-    sollte vegane oder wenigstens vegetarische Speisen umfassen und ...
-    aus biologischen, regionalen und saisonalen Zutaten zubereitet sein.

Soziale und kulturelle Aspekte
-    das Event muss barrierefrei organisiert sein 
-    die Inklusion von benachteiligten Gruppen ist ein wichtiges Prinzip ...
-    wie auch die Integration regionaler und nationaler Traditionen

Über diese grundlegenden Maßnahmen hinaus gibt es zahlreiche weitere relevante Maßnahmen, die für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft förderlich sind, deren Nennung jedoch den Rahmen sprengen würden.

Zero Waste Berlin Festival
Frisches Trinkwasser zapfen (Foto: Zero Waste Berlin Festival)

CO2-Bilanz

Schließlich stellt sich die Frage, wie sehr diese Maßnahmen die gesamte CO2-Bilanz einer Veranstaltung verbessern. Dazu allgemeingültige Aussagen zu machen, ist schwierig, denn Veranstaltungen sind sehr unterschiedlich und es liegen kaum vergleichbare Daten dazu vor. Einen groben Anhaltspunkt bietet ein Vergleich des Zero Waste Berlin Festivals mit zwei ähnlichen Veranstaltungen: einer zweitägigen Konferenz und einer regionalen Familienfeier – zwei Beispiele, für die die Klimaschutz-Organisation atmosfair die CO2-Bilanz erhoben hat. Beim Zero Waste Berlin Festival liegen die CO2-Emissionen pro Teilnehmer*in bei 6,7 kg (Treibhausgasbilanz im Detail [PDF]). Das Vergleichsbeispiel der Konferenz hat – abzüglich der CO2-Emissionen für Flüge, da das Zero Waste Berlin Festival zum Großteil von Menschen aus der Region besucht wurde – 66 kg CO2-Emissionen pro Besucher*in verursacht (Details der Berechnung); die Familienfeier schlug mit 42 kg CO2 pro Teilnehmer*in zu Buche (Details der Berechnung).

Festzuhalten bleibt, dass Veranstaltungen nicht mehr länger ihre negativen Auswirkungen auf die Umwelt ignorieren und bestehende Chancen zur Förderung von sozialen und kulturellen Zielen verpassen dürfen. Eventmanager*innen müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Dafür braucht es Unterstützung von mehreren Seiten. Wenn nämlich das gesamte Team Nachhaltigkeit für das Event wünscht oder gar fordert, wenn zudem Eventmanager*innen zunehmend in Nachhaltigkeitsmanagement ausgebildet und mit den nötigen Kenntnissen, wie Nachhaltigkeit in alle Planungsprozesse integriert werden kann, ausgestattet werden, dann ist das „Zero Waste Berlin Festival“ nicht mehr ein visionäres Leuchtturm-Event, sondern schlichter Standard.

Sarah Sommerauer
Sarah Sommerauer

Die Autorin SARAH SOMMERAUER ist Beraterin und Eventmanagerin von und für nachhaltig organisierte Veranstaltungen.
Nach ihrem Bachelor in Umweltsystemwissenshaften mit Schwerpunkt VWL sowie nach ihrem Master in Sport- und Eventmanagement an der FH JOANNEUM in Bad Gleichenberg absolvierte sie Zusatzausbildungen im nachhaltigen Eventmanagement. Dabei sammelte sie Erfahrungen in San Antonio (Texas), San Juan (Puerto Rico) und Limerick (Irland). Erfahrungen im Eventmanagement sammelte sie u.a. bei Audi Österreich, der emotion group, der Golf Open Event GmbH, bei der „A Greener Festival Ltd“ und der "Zero Waste Berlin Festival UG“.
Im Jänner 2021 gründete Sarah den „Sustainable Events Club“ auf Clubhouse, welcher mittlerweile über 1200 Mitglieder umfasst und in zahlreichen Talks zu diesem Thema mehrere Tausend Personen erreichte. Mit September 2021 begann Sarah als Partnerin bei „2bdifferent“ Veranstaltungen in ihrer nachhaltigen Umsetzung zu beraten und gründete im selben Monat „sommerauer sustainable events“ zur Unterstützung von Unternehmen der Eventmanagement-Branche der der nachhaltigen Umsetzung von Veranstaltungen.


Zitierte Quellen:
Sommerauer, S. (2020). Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die Sicherstellung der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen bei Eiskunstlaufgroßveranstaltungen ausgearbeitet am Beispiel der Europameisterschaften 2020. Masterarbeit am Studiengang Sport- und Eventmanagement, FH JOANNEUM, Bad Gleichenberg.

 


 

Brücken bauen zwischen den Kulturen

Wie Reisedolmetscher*innen zu nachhaltigen Begegnungen beitragen

Reiseleiter*innen und -dolmetscher*innen vermitteln zwischen unterschiedlichen Kulturen. Wie sieht dies in der Praxis aus? Welche besondere Verantwortung tragen sie als Mittler*innen zwischen Menschen und Kulturen? Ein Gespräch mit der Reisedolmetscherin INGEBORG PINT.

Foto Doris Banspach
Foto: Doris Banspach


Nachhaltiges und faires Reisen bedeutet nicht nur das Hinterlassen eines möglichst kleinen ökologischen Fußabdrucks, sondern auch ein respektvolles Eintauchen in fremde Kulturen und Begegnungen und Austausch auf Augenhöhe mit der einheimischen Bevölkerung. Hier stehen oft die Sprache bzw. fehlende Sprachkenntnisse dazwischen – diese Barriere helfen Reiseleiter*innen und -dolmetscher*innen als Bindeglied zwischen den Reisenden und den Einheimischen zu überwinden. Doch die Sprache und das gesprochene Wort sind nur EIN Teil der Kommunikation.
Wie sieht diese Vermittlung zwischen Kulturen in der Praxis aus? Reicht das gesprochene Wort allein aus, um die diversen Facetten einer Reisedestination abzubilden und ein tieferes Verständnis für dessen Kultur und Lebenswelten zu ermöglichen – wie viel „Macht“ hat es? Welche besondere Verantwortung tragen Reiseleiter*innen als Mittler*innen zwischen Menschen und Kulturen? Darüber hat Cornelia Kühhas mit Ingeborg Pint gesprochen.

Ingeborg Pint ist diplomierte Dolmetscherin für Französisch und seit ihrer Pensionierung ehrenamtliche Afrika-Referentin der Naturfreunde Internationale (NFI). Für die Naturfreunde organisiert und begleitet sie Reisen, bei denen der Fokus auf persönlichen Begegnungen liegt und bei denen auch die Projekte der Naturfreunde vor Ort besucht werden. Diese Reisen führen sie vor allem nach Senegal und Gambia. Dort hat die NFI 2018 in der Grenzregion zwischen den beiden Ländern im Rahmen einer „Landschaft des Jahres“ gemeinsam mit den afrikanischen Naturfreunden und ihren Partnerorganisationen zahlreiche Projekte initiiert. Deren Schwerpunkt liegt auf der Anregung und Förderung eines gemeindebasierten Tourismus in der Region.

Ingeborg, du begleitest seit 17 Jahren Naturfreunde-Reisen in Afrika. Wie verstehst du deine Rolle?

Während dieser 17 Jahre habe ich zwar auch Reisen nach Marokko und Togo begleitet, doch seit mehr als zehn Jahren betreue ich Reisen ausschließlich nach Senegal, zuletzt (und projektbezogen) in Kombination mit Gambia. Ich bin Reiseleiterin(-begleiterin) und Dolmetscherin. Die Reiseleitung teile ich mir mit Mamadou Mbodji, Stellv. Generalsekretär des senegalesischen Naturfreundeverbandes ASAN (Association Sénégalaise des Amis de la Nature) und Vize-Präsident der Naturfreunde Internationale (NFI). Punktuell stoßen noch weitere Begleitpersonen aus den afrikanischen Naturfreunde-Verbänden dazu.

Ich halte diese gemeinsame Reiseleitung für sehr sinnvoll, weil so die europäische und die afrikanische Sichtweise eingebracht wird. Mamadou und ich sehen uns aber nicht als Reiseleiter*innen im herkömmlichen Sinn, sondern als Freund*innen der Gruppe und auch der Menschen, die wir bei unseren Besuchen bei Projekten, Initiativen, Kooperativen, in Dorfgemeinschaften und Schulen etc. treffen. Viele der Akteure vor Ort kennen wir schon seit Jahren. Wir sind aber trotzdem „Besucher*innen“, „Reisende“ und nicht in den Gemeinschaften „eingebettet“ – wir wohnen nicht bei Familien, sondern in landesüblichen Hotels oder Camps und wollen so die lokale Wirtschaft bzw. lokale Initiativen unterstützen.

Was macht eine gute (Reise-)Dolmetscherin/einen guten (Reise-)Dolmetscher aus?

Laut gängigen Definitionen ist ein*e Dolmetscher*in nicht „nur“ ein*e Sprach-, sondern auch ein*e Kulturvermittler*in. Er/sie muss neugierig, sensibel und offen sein. Vertrautheit mit der eigenen Kultur ist selbstverständlich. Möglichst viel Kenntnis der Kultur des Gegenübers ist eine Grundvoraussetzung gerade für „interkulturelles“ Dolmetschen, beispielsweise zwischen europäischen und afrikanischen Gesprächspartner*innen. Ein*e Dolmetscher*in soll in der Regel neutral sein und nicht eine der Seiten vertreten. Bei sprachmittelnder Tätigkeit auf Reisen, vor allem bei Gesprächen und Begegnungen zwischen Reisenden und Einheimischen, ist aber oft eine hohe Identifikation mit den jeweils Sprechenden erforderlich – ohne diese würden die Vermittlung von sozialen und kulturellen Inhalten und die Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen nicht klappen.

Foto: Marie Bernard Lefèbvre Domont
Mit Offenheit, Neugierde und Sensibilität zwischen den Kulturen vermitteln (Foto: Marie-Bernard Lefèvbre-Dumont)
Diese Rolle als „Vermittlerin“ zwischen den Kulturen ist ja auch mit einer besonderen Verantwortung verbunden. Wie gehst du damit um?

Nun, ich versuche, Brücken zwischen den Einheimischen und den Reisenden zu bauen, und zwar mit Informationen über Land und Leute. Aber auch umgekehrt sollen die Gastgeber*innen etwas über ihre Gäste erfahren. Ganz wichtig ist, die Besucher*innen für angemessenes, respektvolles Verhalten gegenüber den Gastgeber*innen und in bestimmten Situationen, z.B. bei Festen oder in religiösen Stätten, zu sensibilisieren und entsprechend zu „briefen“.
Ich möchte meinen Mitreisenden einen Blick hinter die Kulissen gewähren und somit mehr Verständnis für das Land und die Menschen schaffen. Und dabei dürfen auch negative Dinge nicht ausgeklammert werden, Missstände bzw. Probleme müssen auch angesprochen werden.

Wie bereitest du deine Gruppe im Vorfeld auf die Reise vor – bzw. dann vor Ort auf die Besuche in Dörfern, auf den Besuch von religiösen Stätten etc.?

Im Vorfeld erhalten die Mitreisenden eine Erst-Info über den Hintergrund und die Spezifika der Reise – unter dem Motto: „Freund*innen besuchen Freund*innen“ – sowie einige grundlegende Artikel aus Zeitungen, von Internetseiten, Ausschnitte aus Reiseführern etc.
Ich stelle zudem ein ausführliches Leseheft mit Beiträgen zu Geschichte, Kultur, Gesellschaft, Probleme (Landwirtschaft, Klima, …) etc. zusammen, das ich zu Beginn der Reise verteile. Als ersten Programmpunkt der Reise gebe ich, gemeinsam mit den afrikanischen Naturfreunden, einen Überblick über die Reisestationen und erkläre auch die Verhaltensregeln, wie etwa Bekleidungsgewohnheiten, Fotografierverhalten, Verhalten beim Betreten von Dörfern …

Wie sprichst du ggf. auch Fauxpas deiner Gäste an?

Da die Mitreisenden viel Informationen vorab und unterwegs bekommen, passieren kaum Fauxpas. Wenn doch, versuche ich, diese in einem persönlichen Gespräch zu klären. Handelt es sich bei dem Vorfall um etwas Grundlegendes, spreche ich es in der Gruppe an.

Gerade in Afrika werden ja viele Sprachen gesprochen – und nicht alle Menschen, denen ihr begegnet, sprechen die Bildungs- und Amtssprachen der jeweiligen Reiseländer. Wie gehst du damit um?

Ich spreche keine der oft zahlreichen Landessprachen. Meine Arbeitssprache ist Französisch, was auch die Bildungs- und Amtssprache in Senegal ist. In Gambia kommt noch Englisch als Bildungs- und Amtssprache hinzu. Innerhalb der Reisegruppen werden bis zu drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) gesprochen. In Senegal gibt es mindestens sechs von größeren Bevölkerungsgruppen gesprochene Landessprachen, in Gambia ist die Situation ähnlich. Unsere afrikanischen Begleiter*innen sprechen nicht zwingend alle diese Sprachen. In Senegal ist Wolof, in Gambia Mandinka die meist verbreitete Sprache (wobei meist auch Wolof zumindest verstanden wird).
Es ist bei Menschen, die die Amtssprachen nicht sprechen, also immer eine afrikanische Begleitperson als Sprachmittlerin erforderlich. Sie übersetzt ins Englische oder Französische und ich dann weiter … Das ist weniger kompliziert, als es klingt. Und es vermittelt den Reisenden Eindrücke von der Sprachmelodie und der Sprechweise von Personen, die einen bestimmten Status repräsentieren oder sich für eine Sache engagieren. Dies drückt sich dann durch besondere Gesten und Blicke aus.

Foto Doris Banspach
Auch Kleidung ist eine Form der Kommunikation (Foto: Doris Banspach)
… Sprache ist eben nicht nur Aus-Gesprochenes, sie umfasst auch den Ausdruck des Körpers, Gesten etc.

Ja, die Kommunikation findet nicht nur über das gesprochene Wort statt. Und genau das ist das Spannende, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Bestimmte Gesten oder Körperhaltungen etwa zeigen Gefühle wie Bewunderung oder Bestürzung. Aber wir „kommunizieren“ auch über die Kleidung – so drückt die Einhaltung von Kleidervorschriften genauso Respekt aus wie eine wortreiche Lobrede. Dabei ist es wichtig, über bestimmte Verhaltensweisen auf afrikanischer Seite Bescheid zu wissen, zum Beispiel dass das Wegdrehen des Kopfes kein Zeichen von Desinteresse ist, sondern von Respekt.

Welche Tipps hast du für Reisende, wie man seine Reisedestination – auch ohne perfekte Beherrschung der Landessprache – besser verstehen kann?

Informieren Sie sich im Vorhinein über Umgangsformen und Gewohnheiten – und seien Sie bereit, sich auf Neues einzulassen. Und lernen Sie ein paar Wörter in der jeweiligen Landessprache, das fördert jedenfalls die Kontaktaufnahme mit den Einheimischen. Ich finde es auch wichtig, mit den Menschen auf Augenhöhe zu kommunizieren – im wörtlichen Sinn: auf sitzende Personen nicht von oben herab einzureden, sondern sich nach Möglichkeit auch hinzusetzen oder hinzuhocken.
Beim gemeinsamen Pflanzen von Bäumen (Anm.: die Naturfreunde im Senegal führen im Rahmen des NFI-Klimafonds Baumpflanzaktionen in Dörfern durch), bei gemeinsamer Arbeit in den Gärten der besuchten Dorfbevölkerung erhält man Einblicke in das Leben der Einheimischen, ohne sich allzu sehr als Eindringling zu fühlen – und auch wenn die nötigen Sprachkenntnisse fehlen, um tiefergehende Fragen zu stellen, erfährt man vieles durch das gemeinsame Tun.
Gemeinsames Singen in Schulen baut Barrieren ab. Ein schönes nonverbales Kommunikationsmittel sind Fotos aus einer Sofortbildkamera, über die sich schnell Kontakt herstellen lässt (selbstverständlich fragen wir immer, ob Fotografieren erwünscht sei).

Foto: Doris Banspach
Gemeinsame Aktionen – wie hier das Pflanzen von Bäumen – verbinden (Foto: Doris Banspach)
Hast du bei deinen Reisen jemals etwas nicht übersetzt?

Das passiert gelegentlich, wobei ich nicht sagen würde „nicht übersetzt“, sondern eher „gefiltert“. Es ist oft nicht klar, wo bei Fragen nach Privatem die Grenze zwischen Anteilnahme und „Zudringlichkeit“ verläuft. Menschen in Afrika können in dieser Hinsicht viel empfindlicher sein als wir. Auch gut gemeinte Ratschläge können beim Gegenüber als überheblich „ankommen“. In manchen afrikanischen Ländern, wenn auch nicht in Senegal, sind Fragen zur Politik zumeist tabu. Hier kann ich in der Übersetzung die Fragen oder Ratschläge etwas entschärfen. Das erlaube ich mir, weil zwischen mir und den Reisenden und den besuchten Personen ein freundschaftliches Verhältnis herrscht und daher meine Position als völlig neutrale und wortgetreue Dolmetscherin relativiert wird.
Allerdings kommt es immer wieder vor, dass ich Hintergrundinformationen „dazu dolmetsche“, die wörtlich nicht gesagt wurden, weil sie für die Sprechenden selbstverständlich sind, für die Reisenden ohne diese Informationen jedoch zusammenhanglos erscheinen würden.
Jedenfalls ist bei unseren Reisen von meiner Seite und vonseiten der Mitreisenden durch die engen Kontakte mit der Bevölkerung viel Empathie notwendig und auch gegeben, was ein wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit unserer Touren ist.

Lesetipp:
„Im Blick: Menschenrechte auf Reisen. Die Rolle von Reiseleiterinnen und Reiseleitern.“ (respect_NFI, 2019) Download

 

Ingeborg Pint
Ingeborg Pint


 


 

Respektvoll reisen revisited: Wo steht die praktische Tourismusethik nach 20 Jahren?

von HARALD A. FRIEDL

Macht es heute noch Sinn, ein Buch über ethisch vertretbares Reisen in Zeiten des Klimawandels zu schreiben? Eine Reflexion über den vermeintlichen Erfolg der Pionierwerke der Tourismusethik, und welche Formate in Zeiten von WhatsApp und Instagram Menschen zur Rettung der Welt bewegen können.

 

Foto: Harald A. Friedl
Foto: Harald A. Friedl

Vor fast genau zwanzig Jahren, im Jänner 2002, erschienen meine beiden Bücher „Tourismusethik“ und „Respektvoll reisen“. Das erstgenannte Buch, herausgegeben im Münchner Profil-Verlag, verfolgte das Ziel, den damaligen Stand der Forschung über die problematischen Folgen des Tourismus systematisch zu erfassen und daraus ethische Schlussfolgerungen abzuleiten. Die wohl wichtigste meiner damaligen Erkenntnisse war – auch aufgrund meiner Erfahrung als langjähriger Reiseleiter: Kein Tourist liest wissenschaftliche Texte! Will ich Menschen erreichen, die eine kultur- und naturorientierte Rundreise genießen wollen, dann muss ich dem erlebnis- und genuss-orientierten Menschen meine Botschaften „schmackhaft“ machen.

Für Tourismuspraktiker*innen ist diese Einsicht wenig überraschend, doch bestand damals noch eine breite Kluft zwischen bodenständigen „Machern“ einerseits und kritisch-reflektierenden Forscher*innen andererseits. Daraus war die Idee entstanden, meine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu kurzen, spannend aufbereiteten Texten zu komprimieren und dabei stets den persönlichen Nutzen des/der Reisenden zu transportieren: Bedürfnisse nach Unterhaltung, Spannung, aber auch nach Orientierung mittels hilfreicher Erläuterungen von beobachtbaren, vordergründig „seltsamen“ Erscheinungen in den bereisten Ländern.

Der praktische „Reiseethik-Guide“ sollte es den Reisenden erleichtern, fremden Kulturen zu begegnen und dabei Berührendes zu erleben. Als Zusatzbonus erlangten Reisende dabei ein „gutes Gefühl“, ihr Reiseland „fair“ zu behandeln, anstatt einen gekauften Snack zu verschlingen und den Verpackungsmüll zurückzulassen. Das Büchlein war gleichsam die farbig gedruckte Einladung an Tourist*innen, eine Reise in Richtung einer „Kunst des Reisens“ zu wagen. Zu „reisen“ bedeutete in meinen Augen, sich als Fremde*r auf eine unbekannte Welt einzulassen, im vollen Bewusstsein um die eigene Verletzlichkeit ob der mangelnden Kenntnisse über diese Welt, um aus dieser Offenheit heraus Vertrauen und Vertrautheit keimen zu lassen. Das ist definitiv etwas anderes, als ein Reiseland auf „Teufel komm raus“ zu konsumieren …

Foto: Harald A. Friedl
Mit den Einheimischen in Austausch treten, ist ein zentrales Wesen des nachhaltigen Reisens (Foto: Harald A. Friedl)

Für dieses hochtrabende Ziel konnte ich den „Reise Know-how“-Verlag gewinnen, der mit seinen praxisnahen Reiseführern äußerst erfolgreich war. Das großzügig illustrierte Büchlein erwies sich mit rund 10.000 verkauften Stück als ein kleiner Bestseller und wurde sogar auch mit dem "SignaTOUR 2004 – für einen Tourismus mit Zukunft" als bester Reiseführer im deutschen Sprachraum zur Förderung von nachhaltigem Reisen ausgezeichnet.

Doch wäre ein solcher Führer heute, 20 Jahre später, noch zeitgemäß? Könnte ein derartiges Format heute noch Erfolg haben?
Eine neuerliche Chance für ein analoges Projekt hatte sich mir im letzten Jahr beim selben Verlag eröffnet – mit der Idee eines Travelguides für klimafreundliches Reisen. Das große Interesse seitens des Verlags trieb mich sogleich zu begeisterter Recherche zu relevanten Themen und verknüpften Aspekten – und ich recherchierte, und recherchierte … und es wurde immer mehr, immer komplexer … Zwischen Tourismus und Klimakrise liegt eben der Rest der Welt, wo alles mit allem zu tun hat!

Foto Harald A Friedl
Vor 10.000 Jahren war die Sahara noch grün ... (Foto: Harald A. Friedl)

Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Klimakrise und Tourismus hatten sich in den vergangenen zwanzig Jahren explosionsartig vermehrt. Diese Themen boomen derzeit, und produzieren seither einen Ozean an wissenschaftlichen wie populären Publikationen. Die Welt – sei es im Blick der Reisekund*innen, aus Sicht der globalisierten Tourismuswirtschaft oder im Fokus der Umwelt- und Klimaforschung – ist eine andere geworden: komplexer, in ihren Herausforderungen vielfältiger, in den Widersprüchen zwischen touristischen, ökologischen und politischen Aspekten und Dimensionen vielschichtiger, die Antworten auf scheinbar einfache Fragen schwieriger.

Pionierdisziplin Tourismusethik-Forschung

Vor zwanzig Jahren war Tourismusethik-Forschung eine junge Pionierdisziplin. Sie litt an typischen Kinderkrankheiten wie einem Übermaß an Sendungsbewusstsein, kompensiert durch einen weitgehenden Mangel an Akzeptanz. Ein Rechtsphilosoph der Universität Graz quittierte damals den Hinweis auf dieses Forschungsthema mit der Bemerkung „Tourismusethik, sowas gibt’s?“.

Zugleich nährte sich diese junge Wissenschaft von einem, unter Pionier*innen häufigen, „reinen Gewissen“, mit dem aus tiefer Überzeugung einfache, praktische Empfehlungen formuliert wurden, um aktiv und engagiert zur „Rettung der Welt“ beizutragen …
… eine „Unschuld“, die sich mit meiner fortwährenden Forschung über die touristisierte Welt zunehmend verdünnte, verflüchtigte. Dies erschütterte nachhaltig die vermeintliche Treffsicherheit solcher Faustregeln, die sich zunehmend als plumpe Klischees zu entlarven drohten.

Mut zur Lücke

Doch angetrieben von einer Forschungsethik der Genauigkeit, Klarheit und „Wahrhaftigkeit“, um einem popularisierten Medienmarkt des Handels von Attraktivität gegen Aufmerksamkeit etwas entgegenzusetzen, fühlte ich mich immer öfter von der erfahrenen Komplexität der Welt „erschlagen“. Der Mut zur groben Vereinfachung und zur klaffenden Lücke erscheint somit als erste Herausforderung für einen Autor, der heute eine aktuelle und erfolgreiche „Botschaft“ über praktische Reiseethik im Zeitalter der Klimakrise lancieren will – anstatt im stillen Museum der moralischen Eitelkeiten zu verstauben.

Doch was anderes als der Austausch von Symbolen ist jeglicher kommunikative Akt? Was anderes ist eine Botschaft als ein in Gedanken gewickeltes Empfinden, notwendig grob vereinfacht auf ein paar Zeichen zum Zweck, das Gegenüber zu erreichen, zu berühren? Alles andere wäre ein Monolog im Elfenbeinturm, ein Ruf in der Wüste …

Foto: Harald A. Friedl
Wer kulturverträgliche Anpassung am nötigsten hätte, ist dafür am wenigsten empfänglich (Foto: Harald A. Friedl)

Wer liest heute noch Bücher?

Damit nicht genug: In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Welt und ihre davon geformte Gesellschaft grundlegend verändert: Eine neue Generation Z mit anderen Werten, Bedürfnissen, Interessen – und Lesegewohnheiten – prägt die Medienwelt und die von ihr gespiegelte Kommunikationskultur. Wer etwa liest heute noch Bücher, außer verschrobene Philosophen und Germanisten? Sätze, die ein Whatsapp-Feld überschreiten, werden zum No-Go, will man diese Zielgruppe erreichen. Macht dann ein Buch noch Sinn? Um WAS zu erreichen? Um sich ein Denkmal zu setzen? Oder wenigstens einen gewichtigen, papierenen Grabstein in Gestalt eines üppigen Lehrbuchs zu hinterlassen, um Studierende zu langweilen? Auch Studierende sind Angehörige der Generation Z, die dieses Buch – außer unter Zwang mit Widerwillen – nicht lesen werden … Welche Form der Publikation macht insofern heute noch „Sinn“, um Menschen zu erreichen, zu inspirieren, zu bewegen?

Foto: Harald A. Friedl
Wer die Generation Z – ob in außerhalb von Europa – erreichen will, braucht neue Formen der Vermittlung (Foto: Harald A. Friedl)

Doch haben Menschen (abseits der Forschungswelt) vor 20 Jahren tatsächlich so viel mehr (Bücher) gelesen als heute? Wurden solche hübschen „Anleitungen zum Weltretten“ gar schon damals eher als „originelles Mitbringsel“ denn als herausfordernde Lektüre gekauft?

Heute bin ich davon überzeugt, dass meine persönlichen Ermutigungen als Reiseleiter meine Reisegäste weit effektiver bewegt hatten, um eigenständig ein Reiseland tastend zu entdecken, etwa um eine Nascherei auf eigene Faust am regionalen Markt zu erstehen, anstatt sich im sterilen Restaurant programmgemäß abfüttern zu lassen; oder um mit Einheimischen einige wenige Worte der lokalen Sprache zu wechseln, mühsam, aber auf Augenhöhe, um erst danach um Erlaubnis für ein Foto zu bitten, anstatt wortlos drauflos zu „feuern“…

Foto Harald A Friedl
Ein Grundprinzip des respektvollen Reisens: erst miteinander sprechen, dann bei Einwilligung fotografieren (Foto: Harald A. Friedl)

Heute denke ich über „Respektvoll reisen“, dass ich damals nur das „gute Gefühl“ der Überzeugung genoss, mit dem Büchlein etwas „gutes zu bewirken“. Aus heutiger Sicht war dies wohl nur ein bescheidener Impuls in einer damals noch sehr kleinen Tourismusnische. Und das war auch ok.

Neue Formen der Kommunikation

20 Jahre später, befangen durch Forschungen im Bereich Neuro-Kommunikation, Konsumentenbedürfnisse, Rezeptionsverhalten und vieles mehr stellt sich für praktische Tourismusethik die Frage nach sinnvollen, nämlich heute wirksamen Formen der Kommunikation grundlegend neu. Es kann aus tourismusethischer Sicht nicht mehr genügen, „einfach nur etwas zu veröffentlichen“, ohne mögliche unerwünschte mediale Effekte mitzudenken. Liefe man heute als naiver Buchautor nicht Gefahr, wertvolle Energie als heiße Luft zu vergeuden? Davon gibt es in Zeiten von Klimakrise und dampfplaudernden Staatslenker*innen genug.

Darum entschied ich mich gegen ein neues Buchprojekt über „klimafreundliches Reisen“. Gemeinsam mit kritischen Co-Autor*innen an einem Newsletter zu basteln, in dem spannende Gastautor*innen mit knackigen Themen zu Wort kommen, macht mehr Spaß – und derzeit noch mehr Hoffnung, Menschen zu erreichen …
… im vollen Bewusstsein, dass dieser Text hier viel zu lang geworden ist, aber dessen Entstehung mir sehr viel Vergnügen und Erkenntnisse bereitet hatte. Und das ist ebenfalls wichtig, um als Forscher*innen zur „Rettung der Welt“ und deren umsichtige Weiterentwicklung motiviert zu bleiben.

 

Der Autor Harald A. Friedl ist assoz. Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus am Institut für Gesundheit und Tourismus Management der FH JOANNEUM in Bad Gleichenberg.

respektvoll reisen

Friedl, H. A. (2002). Respektvoll reisen. Praxis. Reise-Know-how Verlag Bielefeld. https://www.reise-know-how.de/de/produkte/sachbuch/respektvoll-reisen-download-1425

 

tourismusethik

Friedl, H. A. (2002). Tourismusethik. Theorie und Praxis des umwelt- und sozialverträglichen Fernreisens. München: Profilverlag. http://www.profilverlag.de/index.php?id=37&no_cache=1&tx_ttnews%5Bauthorid%5D=91&tx_ttnews%5Btt_news%5D=200&tx_ttnews%5BbackPid%5D=49

 


 

Mission Nachhaltigkeit: auf den Spuren der Jesuiten – oder maximaler Lebensgenuss bei minimalem Schaden?

Blicken wir auf die Geschichte der Tourismuskritik zurück, so schien sich eine Tradition konsequent am Leben zu erhalten: die des Moralisierens. Unterstützt diese Haltung eine nachhaltige Ausrichtung des Tourismus? Darüber diskutieren HARALD  A. FRIEDL (FH JOANNEUM Bad Gleichenberg) und CORNELIA KÜHHAS (respect_NFI).

 

Foto Cornelia Kühhas
Foto: Cornelia Kühhas

 

Das Engagement für Nachhaltigkeit im Tourismus wurzelt historisch in der Tourismuskritik, deren früher Verfechter der Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger war. Berühmt ist sein einprägsamer Satz, wonach „Tourismus zerstört, indem er findet, wonach er sucht“. Und das war bereits in den 1950er-Jahren. Seit damals ist viel Wasser die Donau hinab- und CO2 durch Flugzeugdüsen die Atmosphäre hinaufgeflossen. Erst in den 1970er-Jahren begann sich mit dem Schweizer Jost Krippendorf die Tourismusforschung den Schattenseiten der bis dahin vermeintlich „Weißen Industrie“ langsam zuzuwenden. Doch der Weg vom „alternativen“ über den „sanften“ zum „grünen“ und schließlich dem ganzheitlich verstandenen „nachhaltigen Tourismus“ war lange. Dabei schien sich eine Tradition konsequent am Leben zu erhalten: die Tendenz der selbst ernannten „Moralapostel“, wonach die vorherrschenden Praktiken und damit auch Verhaltensweisen der Konsument*innen falsch wären, während sie selbst den richtigen Weg kennen würden. Unterstützt diese Haltung eine nachhaltige Ausrichtung des Tourismus?

Inwieweit erscheint dieses Urteil von der moralischen Überlegenheit heute noch zutreffend?

Friedl: Ich denke, diese Neigung ist heute besonders stark ausgeprägt, weil die Bevölkerung derzeit durch Covid, den Klimawandel, die Migrationskrise und andere kritische Herausforderungen zunehmend polarisiert wird. Erklärbar erscheint dies aufgrund des großen Verlusts an Gewissheiten und damit an einer Orientierungssicherheit: Je problematischer die Zukunft gezeichnet wird und je wichtiger eben darum eine „Kehrtwendung“ opportun erscheint, desto wichtiger wird die Macht um die „richtige Deutung“ der Wirklichkeit. Denn wessen Beschreibung der Wirklichkeit geglaubt wird, dessen Lösungsvorschläge werden eher Anklang finden. In der Praxis ist es freilich viel komplizierter, wie ich noch argumentieren werde.

Übertragen auf den Tourismus bedeutet dies: Wer sich intensiv mit Klimawandel und anderen gravierenden Folgen des Tourismus auseinandersetzt, kommt zwangsläufig zur Überzeugung, dass etwas dagegen getan werden MUSS. Ähnlich wie im Kampf für höhere Impfquoten als wirksames Mittel gegen die Covid-Epidemie ist es hier schwierig, angesichts der Fakten, Entwicklungen und statistisch überzeugenden Prognosen cool und „tolerant“ zu bleiben, wenn etwa auf der Klimakonferenz wieder nur heiße Luft produziert wird. Wer mehr versteht, hat auch mehr Grund zur Sorge. Wer hingegen keine Ahnung von wachsenden Problemen hat, kann weiterhin entspannt in den Urlaub fliegen – oder Flugreisen anpreisen …

Kühhas: Genau in diesem Spannungsfeld stehen wir als NGO, die sich für eine nachhaltige Tourismusentwicklung einsetzt. Wir wollen die negativen Auswirkungen und Probleme aufzeigen, die Menschen aufrütteln und zu einer Verhaltensänderung anregen – und dies alles auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aus diesem Engagement heraus kann es schon mal vorkommen, dass wir den erhobenen Zeigefinger ausstrecken, auch wenn wir immer wieder sehen, dass dies nicht funktioniert. Wir setzen den Fokus auf „vom Wissen zum Handeln“, also darauf, dass wir die Menschen mit Informationen versorgen – ganz im Sinn „wer mehr versteht, hat auch mehr Grund zur Sorge“, wie du erwähnt hast. Damit erreichen wir vor allem diejenigen Menschen, die schon an Nachhaltigkeitsthemen interessiert sind. Um die breite Masse zu erreichen, müssen wir vor allem auch auf positive Bilder und Emotionen setzen und den persönlichen Nutzen des eigenen nachhaltigen Verhaltens hervorstreichen.

Foto ATLED
Die Emotionen ansprechen ... (Foto: ATLED Algérie)
In welchem Ausmaß hat der moralische Zeigefinder, wo er erhoben wird, seine Berechtigung?

Friedl: Das ist eine schwierige Frage. Aus (tourismus-)ethischer Sicht ist eine solche Anmaßung eher abzulehnen. Denn während Moral den Anspruch erhebt, klar zu regeln, was innerhalb einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gelte, geht Ethik über diese vermeintliche Gewissheit hinaus und stellt viele Fragen: Wer ist von den Folgen einer bislang üblichen Verhaltensweise betroffen? Wer kann für diese Folgen verantwortlich gemacht werden? Wer hat aufgrund von Bildung und Milieu überhaupt die Chance zum entsprechenden Verständnis von den komplexen, oft sogar widersprüchlichen Problemen im Tourismus? Dies gilt sowohl innerhalb der touristischen Kund*innen als auch innerhalb der Produzenten. So ist bisher Ethik als Pflichtfach kaum verbreitet, und auch in den touristischen Ausbildungsstätten wird erst in bescheidenen Ansätzen Nachhaltigkeit im Tourismus gelehrt. Woher sollen es die Menschen also wissen? Insofern erscheint mir der moralische Zeigefinger – aus ethischer Sicht – zumeist als Ausdruck von mangelndem Verständnis und Überforderung zu sein.

Kühhas: Ich sehe auch einen stärkeren Fokus auf Nachhaltigkeit in der Ausbildung von Touristiker*innen ganz wesentlich für das Verständnis eines nachhaltigen Tourismus. Zusätzlich braucht es – wieder aus Sicht einer NGO gesprochen – vielleicht gerade aufgrund der Komplexität des Themas einfache, klare Regeln, also gesetzliche Vorgaben, die einen Rahmen für nachhaltige Produkte vorgeben. Diese Vorgaben fußen dann auch nicht auf moralischen Grundsätzen, sondern auf wissenschaftlicher Expertise zum Thema Nachhaltigkeit.

Foto: Harald Friedl
Am besten lernt man durch praktische Erfahrung: Exkursion von Naturtouristik-Studierenden ins Gesäuse (Foto: Harald A. Friedl)

Friedl: Das viel größere Problem am moralischen Zeigefinger ist jedoch der äußerst kontraproduktive Effekt: Wir alle sind durch die eine oder andere unerfreuliche Schulerfahrung geprägt, wonach uns eine Autorität „klein“ gemacht hatte. Der Habitus einer moralischen Autorität ist darum in der Regel mit einem Signal der Überheblichkeit und der Herabwürdigung verbunden: „Ich bin der G’scheite, der den richtigen Weg kennt, und Du bist der Dumme, sogar zu blöd zum Folgen …“ Das ist eine äußerst destruktive Botschaft. Jeder Mensch, der noch einen Funkten Selbstrespekt in sich trägt, wird da sofort die Haare auf- und sich selbst auf „stur“ stellen.

Kühhas: Wir müssen vor allem auch aufpassen, dass wir mit unserem moralischen Zeigefinger die anderen Menschen nicht abwerten. Denn die Lebensrealitäten, aus denen heraus wir Entscheidungen treffen, sind unterschiedlich. Mit positiven Beispielen können wir Anregungen und Entscheidungsgrundlagen bieten.

Foto: Harald A Friedl
Die erfolgreichste Form der Begeisterung für respektvolles Reisen: Kommunikation auf Augenhöhe (Foto: Harald A. Friedl)

Friedl: Im Gegensatz dazu steht aber die Berechtigung, wenn nicht gar die Notwendigkeit zu einer bestimmten Haltung, wenn man aufgrund seiner Forschung zu einem überzeugenden Ergebnis kommt. Ich habe im Zuge meiner Rede für „Fridays for Future“ am Grazer Hauptplatz anlässlich des Welt-Klimastreiktages am 19. März dieses Jahres die Teilnehmer*innen aus tiefer Überzeugung zum zivilen Widerstand aufgefordert. Das bedeutet: Wenn ich aufgrund meiner fundierten Erkenntnisse davon überzeugt bin, dass sich die Mehrheit in die falsche Richtung bewegt, dann erscheint es mir nicht nur legitim, sondern aus ethischer Sicht sogar geboten zu sein, gewaltfrei gegen diese Bewegung zu kämpfen. Es war der zivile, gewaltfreie Widerstand von jungen Menschen im Dezember 1984 gegen die Rodung der Hainburger Au, der letztlich zur Aufgabe des geplanten Staudammprojekts und zur Errichtung des gleichnamigen Nationalparks geführt hatte. Ziviler Widerstand hat eine völlig andere Qualität als der moralische Zeigefinger, weil er aus einer Position der politischen Schwäche gegenüber einem Anspruch der moralischen und politischen Überlegenheit geleistet wird. Macht ist jedoch immer legitimationsbedürftig gegenüber jenen, die keine (starke) Lobby haben: wie zukünftige Generationen und auch die meisten Menschen in den ärmeren Ländern im Fall des Klimawandels.

Foto: Harald A. Friedl
Demonstration von Fridays-for-Future am Welt-Klimastreiktag 2021 in Graz (Foto: Harald A. Friedl)

Kühhas: Dass der herablassende „moralische Zeigefinger“ eher Ablehnung bewirkt und die Fronten verhärtet, sehe ich auch – das zeigt auch die Impfquote bzw. die hohe Zahl an Impfverweiger*innen in Österreich. Eine andere Strategie ist, das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität anzusprechen, ein gemeinsames Ziel zu haben, aufzuzeigen, dass jede*r einen Beitrag leisten kann – und letztendlich auch davon profitiert. Aber wie wir jetzt in der Corona-Krise sehen, ist das kein überzeugendes Signal und scheint nicht zu funktionieren – zumindest bei uns in Österreich. Wichtig ist, den Menschen zu zeigen, dass nachhaltiges Handeln für sie selbst Vorteile und ein gutes Leben bringt – nämlich authentische Urlaubserlebnisse, gesunde Lebensmittel, lebenswerte Städte usw.

Was sehen Sie als die große Schwäche eines solchen Anspruchs auf „moralische Überlegenheit“?

Friedl: Die große Schwäche liegt im tiefen Glauben an den überkommenen Mythos, dass der Mensch ein rationales Wesen sei. Wir sind durchaus – mehr oder minder – in der Lage analytisch zu denken. Seit Sigmund Freud, spätestens seit den bahnbrechenden Erkenntnissen der Hirnforschung wissen wir jedoch, dass Emotionen die Grundlage für Entscheidungen sind. Erklärungen liefern nur einen Überbau – und zwar jene Erklärungen, die ins jeweils bewährte Weltbild passen. Alles andere wird vom Hirn ausgeblendet. Fazit: Der Glaube daran, der „Andere wird wohl so vernünftig sein und meiner Logik folgen“, greift ins Leere. Vielmehr bedarf es, um Menschen für eine Idee oder ein Produkt „gewinnen“ zu können, einer anschlussfähigen Sprache. Ich muss die Menschen zunächst dort abholen, wo sie stehen – anstatt zu erwarten, dass alle freiwillig zu mir kommen, weil ich so supertolle Sichtweisen habe …

Foto Harald A Friedl
Durch positiv erlebtes Miteinander entsteht Verbundenheit und Verbindlichkeit (Foto: Harald A. Friedl)


Und weil der Mensch emotional geleitet wird, sind solche Botschaften erfolgreich, die im Gehirn positiv wirken: die lustig sind, spannend oder anderweitig interessant. Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Fischer. Jeder Werbeprofi weiß das. Von Werbeprofis kann man darum viel lernen. Daher sind es weniger umfassende, ausgewogene Argumente und komplexe Daten, die überzeugen können. Damit kann man vielleicht einen alten Professor begeistern, wenn überhaupt, aber sicher keine Generation Z oder eine gestresste urbane Familie …

Kühhas: D´accord! Und genau das ist das Schwierige und die große Herausforderung bei unserer Arbeit … Gerade wenn man viel weiß, sich der Komplexität des nachhaltigen Tourismus bewusst ist und laufend mehr dazu lernt, ist es schwierig, zu vereinfachen, die Dinge herunterzubrechen – andererseits ist gerade das Thema Reisen und Urlaub ja stark mit Emotionen verbunden, die angesprochen werden können. Und damit sind wir auch wieder bei den positiven Bildern eines nachhaltigen Tourismus, die wir viel stärker einsetzen sollten …

 

Harald A. Friedl ist assoz. Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus am Institut für Gesundheit und Tourismus Management der FH JOANNEUM in Bad Gleichenberg. Er ist zudem Autor des Buches „Respektvoll reisen“ und „Kulturschock Tuareg“, beide im Reise-Know-how-Verlag erschienen.

Cornelia Kühhas ist Expertin für Nachhaltige Tourismusentwicklung und Entwicklungszusammenarbeit bei respect_NFI.